Redebeitrag zur Kundgebung „Gegen jeden Antisemitismus und Rassismus“ vom gleichnamigen Bündnis in Hamburg vom 26. Oktober 2023.

Der 7. Oktober 2023 ist kaum drei Wochen her, und kann jetzt schon jetzt mit vollem Recht als Schicksalstag für Israel und den Nahost-Konflikt betrachtet werden. Wir hören und sehen täglich neue, grauenhafte Nachrichten. Vor kurzem erst wurden furchtbare Videos veröffentlicht, welche die barbarische Gewalt der Hamas gegenüber israelischen Zivilist*innen zeigen. Sie sind so grauenhaft, dass ich nicht mit gutem Gewissen dazu raten kann, sie sich anzuschauen. Und doch ist es notwendig, dass sie zumindest von einigen Menschen gesehen werden, um zu verstehen, dass das, was da passiert ist, nicht nur Israelis, sondern Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt völlig zurecht an den deutschen Nationalsozialismus, an die Shoah erinnert. Menschen wurden gefoltert, vergewaltigt, entführt, kaltblütig ermordet – Männer, Frauen, Alte, Kinder – mit Freude an der Tat, mit Lachen im Gesicht, mit unbändigem Hass. Mittlerweile sollen es mehr als 1.000 Zivilist*innen sein, die in Israel ermordet wurden. Für ein so kleines Land bedeutet das: So gut wie jeder kennt jemanden, der getötet oder entführt wurde. Ein journalistischer Kollege, der bei der israelischen Tageszeitung Haaretz arbeitet, und mit dem ich 2021 kurz zusammengearbeitet hat, konnte nur überleben, weil er sich mit seinen Kindern stundenlang in einem Bunker versteckt hat, während in seinem Kibbuz nahe Gaza die Terroristen jeden malträtierten, der ihnen in den Weg kam. Sehr viele andere hatten nicht so viel Glück.

Gleichzeitig sehen wir täglich Bilder aus dem Gazastreifen, diesem Ort, aus dem seit Jahrzehnten ohnehin schon sehr selten irgendwelche schönen Bilder kommen: zerbombte Häuser, ganze Straßenzüge, die zerstört wurden, Luftangriffe, Menschen, die massenhaft auf der Flucht sind. Es ist eine Flucht ohne nennenswertes Ziel, denn Gaza ist nach allen Seiten abgeriegelt: Der Grenzübergang Rafah nach Ägypten sei diese Woche zwar geöffnet, berichten die Medien, allerdings nur in eine Richtung, um Hilfslieferungen durchzulassen. Ägypten will die Palästinenser*innen nicht, und an der Grenze zu Israel stehen die Panzer und bereiten sich auf eine Bodenoffensive vor. Nach jüngsten Zahlen sind allein hier durch Luftschläge über 5.000 Menschen gestorben. Wenn die Regierung Netanyahu Ernst macht, werden es unvermeidlich mehr werden.

Als wäre all das nicht schrecklich genug, hat uns der 7. Oktober aber einmal mehr daran erinnert, dass der Nahost-Konflikt, egal in welcher Eskalationsstufe, auch eine massive Projektionsfläche ist. Es hat keine 24 Stunden gedauert, bis selbsternannte Linke in Deutschland, Österreich, Großbritannien oder auch den USA ein abscheuliches Massaker von Hamas-Terroristen an über 200 Festivalbesucher*innen – die sich obendrein erklärtermaßen für den Frieden einsetzten – zum Widerstand, ja, sogar zum revolutionären Akt gegen Imperialismus, gegen Kapitalismus oder gegen Rassismus verklärten. Künstler*innen, Literat*innen, Akademiker*innen saßen zu Hause in ihren warmen Wohnungen, weit weg von einem beispiellosen Blutbad, und verhöhnten die Opfer und die Überlebenden.

Ich könnte unzählige Beispiele dafür aufführen, bleibe aber bei einem: Eine britische Journalistin, deren Interview ich mal für eine linke Wochenzeitung redigiert habe, zog, angesprochen auf den Terror, einen Vergleich, der mich noch immer fassungslos macht: Sie meinte, wenn jemand einen Menschen jahrelang in einem Bunker in seiner Wohnung einsperren würde und dieser dann freikäme, wäre es nicht verständlich, dass dieser Rache nimmt? Mit anderen Worten: Israelis, Jüdinnen und Juden, Tourist*innen, sie haben alle aus purer Freude am Leid Anderer den Grenzzaun zu Gaza selbst gebaut und sind nun irgendwie selbst schuld an der unfassbaren Gewalt, die ihnen widerfahren ist.

Andere leugnen die Verbrechen, spielen sie herunter oder sagen so etwas wie: Es gibt gar keine Zivilist*innen in Israel, alle Menschen in dem Land seien irgendwie Verbrecher – ungeachtet dessen, dass unter den Todesopfern dieser Tage auch solche sind, die sich für Verständigung zwischen Israelis und Palästinenser*innen einsetzen oder Antizionist*innen sind. Die Botschaft, die sich hier herauslesen lässt, ist deutlich: Juden sind immer Schuld an dem, was ihnen widerfährt, sie sind unerwünscht, sie lügen, sie sind immer falsch, egal wie, egal wo, egal was sie tun, egal was sie sagen, und sie haben den Tod verdient. Das finden Menschen, die sich selbst immer noch für ganz tolle Antifaschisten, für Kämpfer für das Gerechte und Gute, und natürlich für alles aber keine Antisemiten halten.

Dass sie gehasst werden, nur weil sie jüdisch sind, das haben in den vergangenen Tagen auch Jüdinnen und Juden in aller Welt wieder einmal zu spüren bekommen. Plakate, auf denen nach Informationen über die Entführten gebeten wird, wurden abgerissen. Synagogen wurden angegriffen, angezündet. Die Leiterin einer Synagoge im US-Bundesstaat Detroit wurde unter ungeklärten Umständen tot aufgefunden. An verschiedenen US-Universitäten solidarisierten sich nur Stunden nach dem Angriff der Hamas Student*innen vorgeblich mit der palästinensischen Befreiungsbewegung, schwadronierten vom „antikolonialen Widerstand“, glorifizierten den Terror. Das alles kommt nicht selten aus einem studentischen, einem akademischen, gebildeten Milieu, das dann immer noch glaubt, ganz und gar nicht antisemitisch, sondern völlig moralisch korrekt zu handeln. Selbstverständlich ist so ein Handeln, das Jüdinnen und Juden für etwas verantwortlich macht, mit dem sie nichts zu haben, antisemitisch – und es ist eine Tragödie, dass man das überhaupt sagen muss.

Aber auch Rechte, Liberale, Konservative und Sozialdemokraten finden Gefallen daran, die Gewalt im Nahen Osten für ihre Zwecke zu nutzen. Nicht nur die sogenannte AfD, auch CDU und SPD empfinden den Krieg offenbar als willkommenen Anlass, sich gegenseitig in ihren ohnehin laufend lodernden Abschiebefantasien und rassistischen Kampagnen zu überbieten. Nachdem der Bundeskanzler vergangenes Wochenende im Spiegel-Interview verkündet hatte, er wolle nun „im großen Stil“ abschieben, rief diese Woche von der Rückbank der christdemokratischen Opposition Jens Spahn hinterher, das würde ihm nicht reichen, es müsse „physische Gewalt“ ausgeübt werden. Und selbstverständlich freut sich auch ein Friedrich Merz jederzeit darüber, Migrant*innen und Geflüchteten in Deutschland ein kollektives Antisemitismusproblem zu unterstellen, indem er sie medienwirksam aber natürlich völlig surreal dazu verpflichten will, sich zu Israel zu bekennen. Gleichzeitig werden Demonstrationen, die Solidarität mit den Palästinenser*innen ausdrücken wollen, prophylaktisch verboten oder niedergeknüppelt. Ja, es gibt Antisemitismus auf solchen Demonstrationen, da gibt es auch nichts zu beschönigen. Und dennoch ist es ein verheerendes Zeichen in einer Demokratie, wenn schon der Versuch einer Solidarisierung mit Gewalt abgeschreckt werden soll.

Es liegt auf der Hand, was diese Äußerungen und Maßnahmen zu genau dieser Zeit bezwecken sollen: Sie sollen Stimmung machen gegen jeden, der Jens Spahn oder Friedrich Merz fremd vorkommt, völlig ungeachtet dessen, ob er oder sie tatsächlich auf einer Demonstration gegen Israel gehetzt oder zum Terror aufgerufen hat oder nicht. Es kommt diesen Leuten gerade Recht, so ein Krieg, ein Massenmord am anderen Ende der Welt, um ihre eigene rassistische Agenda endlich reinen Gewissens vortragen zu können. Die Grünen und die FDP, im Übrigen, will ich hier gar nicht schonen. Sie tragen das mindestens mit. Und jede andere linke Stimme im Bundestag ist zerstritten oder verstummt.

Inmitten dieser ausgesprochen düsteren Stimmung sind Kundgebungen wie die heutige ein selten gewordener Lichtblick. Sie zeigen, dass es noch politisch aktive Menschen gibt, die sich nicht verblöden lassen, die Israelis und Palästinenser*innen noch als Menschen sehen und nicht als tote oder lebendige Diskursmunition für ihr politisches Programm. Ihr zeigt heute, dass ihr Ambivalenzen begreifen und aushalten könnt, dass es keinen Grund gibt, sich völlig einseitig hinter jede Militäraktion einer rechten Regierung zu stellen, genauso wenig wie es Grund dafür gibt, Terror, Folter und Massenmord als irgendwie gearteten Widerstand umzudichten. Es tut gut, das zu sehen. Und denkt daran: Es wird auch gesehen. Egal, wie viel ihr heute seid: Viele Menschen trauen sich aus den genannten Gründen gar nicht mehr, auf die Straße zu gehen. Sie denken, man müsse sich nun für eine Seite des Wahnsinns entscheiden: Solidarisch mit den einen, Tod den anderen. Oder sie haben sich erfolgreich einreden lassen, dass alles viel zu kompliziert sei, dass man für gar nichts richtig sein kann.

Natürlich ist es kompliziert, aber Veranstaltungen wie heute zeigen doch ganz eindeutig, dass es einen Weg gibt, sich „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen“, wie es Theodor Adorno geschrieben hat.

In diesem Sinne: Lasst euch nicht dumm machen.