Heute wäre mein Großvater, Joachim Nowotny, 90 Jahre alt geworden. Ich muss in letzter Zeit häufiger an ihn denken.

Opa war gelernter Zimmermann aus der Oberlausitz, ging später an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Das ermöglichte es ihm, in Leipzig Germanistik zu studieren. Er wurde in der DDR vom Arbeiterkind zum Schriftsteller. Als Kind war für mich ein Besuch bei ihm immer eine Besonderheit. Nicht nur, weil er nach einem Unfall querschnittsgelähmt war und im Rollstuhl saß, seit ich denken kann. Was mich schwer beeindruckte, war seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, dieser unfassbare Reichtum an sehr präzisen Erinnerungen, die er zu haben schien.

Sprach man ihn zur richtigen Uhrzeit auf irgendetwas Alltägliches an – das Wetter, die Nachbarn, irgendein Erlebnis in der Schule – führte in seinem Kopf innerhalb von Minuten eins zum Anderen, und wenig später fand man sich wieder in einer halbstündigen szenischen Erzählung einer seiner vielen Frühergeschichten. „Wie komm’ ich da jetzt drauf?“, das fragte er mich ständig, und oft wusste ich es selber nicht mehr, gebannt von dem Kosmos, den er zu beschreiben wusste.

Wie konnte er sich all das merken? All die Personen, die Orte, wie jemand sprach, wie etwas aussah, wie etwas duftete, wie der genaue Wortlaut dieser oder jener Redewendung war, die einer immer nutzte? Es kam mir vor wie ein Zaubertrick. Manchmal wusste ich schon als Kind am Freitag nicht mehr, was ich am Montag gemacht habe – und dieser Mann konnte messerscharf und detailreich erzählen von Dingen, die fünfmal so lang her waren, wie ich alt war!

Manchmal konnte sein Erzählen langatmig werden, zerfasern. Jetzt erst begreife ich, dass er nicht allein erzählte, um mich zu unterhalten – sondern versuchte, sich genau zu erinnern. War das auch der Grund, warum er so oft telefonierte, laufend Besuch hatte von unzähligen Freunden, die er teils 50 Jahre und länger kannte? Weil er wusste, dass man nur durch dieses ständige Hin- und Hererzählen Erinnerungen überhaupt am Leben halten kann?

In letzter Zeit passiert es mir immer öfter – es mag an der Pandemie liegen, oder am fortschreitenden Alter – dass mich Freunde an ein Erlebnis mit ihnen erinnern, das ich schon fast vergessen hatte. Manchmal ist das gerade mal zehn, manchmal fünfzehn Jahre her. Oft passiert das auch andersherum. Würden wir nicht drüber reden, würde die Erinnerung ganz verschwinden. Sie würde nicht mehr angestoßen, nicht revitalisiert.

Dann fängt es an: Wer war auf dieser Party nochmal? War das wirklich dort, oder woanders? Welches Jahr? Einige Geschichten, da bin ich mir sicher, sind schon jetzt weg, für immer, weil wir lange nicht drüber gesprochen haben. Noch vor wenigen Jahren kamen mir Leute, die permanent über „Früher“ reden, inklusive mir selbst, schrecklich alt vor. Jetzt sehe ich das ein wenig anders, vermutlich weil ich alt werde.

„Schreib’s auf“, riet mir Opa ständig. Was ich aufgeschrieben habe, Tagebucheinträge, Briefe, Geschichten, kam mir aber oft so unfassbar banal vor. Warum soll ich so was alles aufschreiben? Es ist doch nicht das gleiche wie Opas Nachkriegsgeschichten, wo jedes Detail eine geradezu historische Bedeutung hat. Was für ein kindlicher Quatschgedanke.

2013 hatte ich noch die Gelegenheit, Opa meinen ersten gedruckten Zeitungsartikel zu zeigen. Thema und Medium sagten ihm nichts, aber er erkannte die Bedeutung für mich sofort, studierte jedes Wort, versuchte, eine kluge Einschätzung zu geben. Ein Jahr später starb er.