Aus der losen, aber fortsetzungsfähigen Reihe „Abgelehnte Texte über populäre Musik“:
Es wäre übertrieben zu behaupten, ich hätte zum Sound von NOFX erstmals aufs Maul gekriegt, aber zumindest war es das letzte, was ich hörte, bevor ich mir die Kopfhörerstöpsel aus den 14-jähirgen Ohren zog und paar Minuten später auf dem Boden lag. Es gab keinen Anlass für die Prügel, außer meine große Fresse, meine langen Haare, meine Unterlegenheit. Und es war genau diese Menschenmischung aus großer Fresse, langen Haaren und Unterlegenheit, für die NOFX Musik machten.
The Separation of Church and Skate war mein Lieblingssong und ich hörte ihn unentwegt, fasziniert von der Schnelligkeit, unfähig, irgendwelche englischen Worte außerhalb von „church“ und „skate“ überhaupt zu verstehen, aber das reichte auch, um den Gag einigermaßen zu begreifen.
Wie immer war ich mit allem viel zu spät. Das Album, das diesen Song enthielt, war ihr neuntes, The War On Errorism, aus dem Jahr 2003. Fans, die die Band schon seit den 80er-Jahren kannten, konnten damals schon über 30 sein. Aber ich liebte mit 13 eine meiner neuen Lieblingsbands, lernte mit ihr, erst viele englische Wörter, dann viele englische Schimpfwörter, schließlich die zahlreichen teils ernsten, teils albernen Diskurse in und um die Punk-Szene herum, die in etlichen ihrer Songs eine Rolle spielen: Drogenkonsum, Hedonismus, Veganismus, Kommunismus, Hardcore, Reggae, Ska, „true“ und „fake“, Sell-Out und immer mehr und mehr.
13 Stitches versuchte ich auf der Gitarre zu lernen. Wobei: Was heißt schon lernen? Ich drückte so lange irgendwelche Saiten zusammen, bis ansatzweise das herauskam, was ich da hörte. „The first time I saw the Descendents, they were the fastest band I’ve ever seen“, so fängt der Song an. Ich hatte von den Descendents, musikalische Überväter all jener eher melodischen Punkbands, die ich so mochte, nie irgendwas gehört. Es war mir auch egal. Wenn die Punks mit den graumelierten Haaren vor den Shows darüber fachsimpelten, wie geil diese und jene Band war – war! –, wie viel krasser die Shows und besser die Leute, bin ich ihnen aus dem Weg gegangen. Ich wollte nicht auf dem Archivmaterial von Erinnerungen irgendwelcher Dinosaurier meine Identität aufbauen, wie jeder normale Jugendliche.
Glücklicherweise fand ich auch für dieses Empfinden einen NOFX-Song: It’s My Job to Keep Punk Rock Elite (1997) wendete sich auf knapp 90 Sekunden sowohl gegen Major-Labels, die in den 00er-Jahren mit dem kurzen Punkrock-Trend massig Geld verdienen wollten (und dies mit anderen Bands auch taten), als auch gegen Szene-Gatekeeper, die immer wissen und dozieren, was man „eigentlich“ hören sollte, was „richtiger“ Punk ist und was nicht. Und natürlich waren es vor allem die graubärtigen Herren, für die NOFX nur ein Bad Religion-Abklatsch, ach was, am langen Ende ein Ramones- oder Sex Pistols-Abklatsch waren. Es wäre ohnehin nicht möglich gewesen, es diesen Leuten recht zu machen. Immer hatte man die falsche Platte und wenn man einmal die richtige hatte, brauchte man noch zehn andere. Ihre Unternehmung war es, Punk zu einem Distinktionswettkampf zu machen, den sie immer gewinnen, weil sie entweder sonst nichts gewannen oder weil es der einzige Modus war, in dem sie sich in der Welt zurechtfanden.
Nun spielten NOFX vergangenes Wochenende nach knapp 40 Jahren Bandgeschichte ihre beiden letzten Europa-Shows, mit den zwei finalen Tourtagen in Berlin. Ende des Jahres soll es dann noch einmal eine allerletzte Show in Los Angeles geben, dann ist Schluss. Als Sänger Fat Mike dieses Ende in einem kurzen Video ankündigte, sah man ihm vieles an: dass er zwar gern auf der Bühne, nicht unbedingt aber gern vor einer Kamera steht. Dass dem 57-jährigen das Ende der Band nicht leicht fällt. Dass es aber auf eine Art auch sein muss, sah man auch.
Als ich NOFX das erste Mal sah, bei einem Festival Anfang der 2010er-Jahre, war das noch nicht so. Ganz jung waren die vier da auch nicht mehr, aber immerhin war Fat Mike noch unternehmungslustig genug, um vor der Show „eine halbe Acid“ zu schmeißen und das auch stolz zu verkünden: „We’ll see how it goes“. Ja ja, dachte ich, aber siehe da: Die Pappe knallte ganz offenkundig, NOFX versemmelten die halbe Show, Mike kriegte kaum noch etwas auf die Reihe und empfahl gegen Ende, man möge doch bitte auf der Bühne gegenüber The Sounds sehen, die seien ohnehin viel besser. Großartig.
Seitdem hörte ich noch mehr NOFX, dann auch alles Alte und neue. „39, my hair should be parted not spiked and green, my nights should end at 10 not 6 a.m., but it is and they don’t“, so schallt es auf einer meiner Lieblings-EPs Never Trust a Hippy, die nicht zum Kanon gehört, und mir gerade deswegen so gut gefällt. Punk ist, was du draus machst – das las ich daraus, und entschied von Zeit zu Zeit, dass ein wenig sinnlose Ekstase nicht schaden kann, dass es manchmal eben nicht zwei, sondern zehn Bier sein müssen, und dass mir bis 39 alles scheißegal sein kann, und danach erst recht.
Nun ist keiner von uns so alt wie das älteste Album von NOFX, aber freilich mussten wir da hin, zur letzten Show der letzten Tour in Europa. Und freilich sollte es einer dieser Nicht-zwei-sondern-zehn-Tage werden, weil: everything in moderation, especially moderation.
Auf dem Tourplakat stehen die Descendents nun unter NOFX, die Helden von 1978 wurden von ihren Nacheiferern eingeholt. Milo Aukerman trägt auf der Bühne eine Trinkflasche um den Hals, gibt wirklich sein Bestes, mit seinen 61 Jahren Geschwindigkeit und Power zu repräsentieren, aber es nützt nichts: I’m the One, dieser wunderbar simple Song über das Dasein als freundlicher Loser, den die Mädchen so nett finden, dass er keinesfalls anziehend sein kann, er kommt rüber wie ein Requiem. Keine Legenden, eher lebende Denkmäler. Ich schaue einen Kumpel an und mache eine Handbewegung, als würde ich etwas in der Luft von der Checkliste abhaken, er versteht mich sofort und sagt „mehr aber auch echt nicht“.
Das „Konzept“ der Zitadelle Spandau geht voll auf: Man kann die Leute auf dieser kleinen Insel gefangen halten, wenn man ihnen weder Bändchen noch Stempel gibt, auf dass sie genötigt sind, den beknackt hohen Ticketpreis von 90 Euro auf jeden Fall noch einmal in Speisen und Getränken umzusetzen. Vorn kostet das Bier mehr als hinten, fünf Euro beträgt die Zwangsabgabe für jeden größeren Rucksack, man kommt sich vor wie in den Händen einer Drückerbande – und irgendwie ist man das ja auch. Trotzdem saufen die Leute wie verrückt, Punks in guten Arbeitnehmerverhältnissen. Im Anschluss spielen Pennywise, überraschend stark, aber für mich bleiben sie eine 1-Song-Band, und dieser eine Song ist auch nicht so gut. Puristen mögen mich schelten, bitte hört in Ruhe eure Hymne.
Ein paar Getränke vorgespult kommen dann NOFX auf die Bühne, beginnen mit 60%, den ich für einen beinahe idealen Punksong halte. Es fällt mir leicht, die Inflation der grauen Härchen um mich herum zu ignorieren. Fat Mike behauptet, diesmal Pilze gefressen zu haben, aber er spielt überraschend präzise, auch die sehr schnellen Basslines. Heute wollen sie ihr hochbeliebtes Punk in Drublic von 1994 spielen, und das von mir geschätzte Wolves in Wolves Clothing von 2006. Ich brülle die ganze Zeit irgendwas mit, manchmal haut’s hin, oft auch nicht. Alle um mich herum tun in etwa dasselbe. Zudem wird viel fotografiert und gefilmt, oft Band und Bühne, manchmal aber auch nur sich selbst. Permanent kleine Bildschirme. Wir sind da. Wir waren da. Ich beschließe, jetzt nicht griesgrämig, genervt oder traurig zu werden, schlängel mich durch Massen, verliere Freunde, finde sie wieder, singe ein paar Takte mit Fremden. Man muss es sich auch schön machen, hässlich ist schon genug.
Die Band braucht eine Pinkelpause, die auch eine Kokspause sein könnte, für mich wird sie zur Getränkepause. Ein Typ mit Sonnenbrille und diesem gottverdammten grauen Bart dreht sich zu mir und einer Freundin um, mustert uns und fragt, ob wir nicht „zu jung“ seien. Um des Friedens willen gehe ich auf diese strunzdumme Frage sogar ein und antworte, dass ich immerhin Mitte 30 sei, und damit eigentlich für überhaupt nichts mehr zu jung, außer vielleicht für Thrombosestrümpfe oder die Mitgliedschaft in der SED. Der Bärtige lässt nicht nach, will wissen, welches „mein“ Album sei, will testen, ob ich die grotesken 90 Euro aus lauter Dummheit ausgegeben habe. Ich nenne ihn mein Einstiegsalbum. Er belächelt mich, labert irgendeinen Dreck über „die Neunziger“, merkt nicht im Ansatz, dass er genau das Klischee vom gatekeependen Altpunker erfüllt, dass seine angebliche Lieblingsband in nicht nur einem Song so herrlich zerrissen hat. Sollte jemals der Tag kommen, an dem ich so dämlich werde, möge mich zur Strafe der vorzeitige Hörsturz ereilen.
NOFX lösen derweil ihr Versprechen ein: 40 Songs in einer Show. Zum Schluss Kill All the White Man, keine Zugabe, die ohnehin kaum jemand verlangt.
Einen Tag später komme ich durch einen Zufall zu der Gelegenheit, die Band noch einmal zu sehen, es ist das zweite von zwei Abschiedskonzerten, diesmal mit einem anderen Albumzyklus. Es ist deutlich leerer, das Publikum gefühlt nochmal älter. Fat Mike fängt irgendwann an zu weinen, hört dann kaum noch auf, braucht mehrere Pausen. Ich kaufe es ihm voll ab. Sie spielen The Separation of Church and Skate, was mich wirklich nochmal freut. Dutzende Leute stehen neben der Band auf der Bühne, Freunde und Familie, vielleicht, der ein oder andere pflichtschuldige Promoter. Es hat etwas von Geburtstag, auch von Beerdigung.
Dann The Decline in der 18-Minuten-Vollversion zum Schluss. Staub, und keine Zugabe. Ein paar ältere Männer fassen sich an den Schultern, ich kann nicht genau sagen, ob ihnen die Augen vom Dreck tränen, oder ob sie wirklich mitgenommen sind.
„Das ist ’n Punkrocker, man“, sagt einer, der nicht fassen kann, dass noch 20 Leute an einem Zaun neben der Bühne versuchen, ihr letztes Wort mit Fat Mike zu wechseln, vielleicht ein Foto oder eine Unterschrift zu bekommen. Ich weiß nicht, was mich mehr deprimiert: Diese Ruhe über der Zitadelle, das eilige Abziehen aller Fans, die Sekunden nach dem letzten Akkord schon daran denken, wie sie schnellstmöglich genug Schlaf für den Montag bekommen; das Wort „Punkrocker“ aus dem Mund eines heiseren Mittvierzigers, der das so dahin sagt, als ob es irgendeine Bedeutung hätte, oder Fat Mike selbst, der auch so aussieht, als könne er das alles nicht glauben, aber nicht auf die „Mein Leben ist ein Traum“-Art, sondern eher auf die „Wie konnte es so weit kommen?“-Art.
Man muss es ihnen lassen: Sie wissen, wann Schluss sein muss, wann es Schluss zu sein hat. Schluss ist, wenn die Karikaturen aus den eigenen Songs zu den Konzerten kommen; Schluss ist, wenn man keine Zugaben mehr spielen will, aber auch keiner „Zugabe!“ ruft; Schluss ist definitiv auch dann, wenn ein schlechtes Video für die Erinnerungsfähigkeit wichtiger ist als die Erinnerung selbst. Ich schaue meine staubigen Schuhe an und werde dann doch nochmal traurig, beschließe aber, die Emotion vorerst auf 39 zu verschieben. War schon alles richtig so. Ich war 13, 23 und 33 und werde niemals einem jüngeren Menschen etwas davon erzählen müssen, wie legendär diese Shows gewesen sein sollen. Nur für mich waren sie es.